Eine der schwierigsten Herausforderungen an den menschlichen Geist ist die Vorstellung eines eigentlich unvorstellbaren Zustandes. Eines Zustandes, in dem es keine Zeit, keinen Raum und keinerlei materielle Manifestationen gibt. Es ist das „Nichts“, die absolute „Leere“ und damit die Nicht-Existenz der uns vertrauten aber trotzdem unergründeten Welt und deren Gesetze und Regeln, denen sie je nach menschlichem Erkenntnisstand zu folgen scheint.
Nichts, einfach nichts!
Und trotzdem wagen sich Menschen an diesen Gedanken. Vor 5000 Jahren schon, wie uns von den alten Indern in den Veden überliefert wurde. Seit jener Zeit wird dieser Gedanke in verwirrender Vielfalt und zum Teil sogar widersprüchlich von den Indern weitergesponnen. Sehr viele menschliche Geister haben sich, manchmal in Konkurrenz zueinander, damit beschäftigt.
Aber es bleibt eine Konstante.
Der ewige Kreislauf des „Nichts“ welches den handfesten Manifestationen der Welten weicht und letztere wieder dem „Nichts“. Das „Nichts“, die absolute „Leere“ sind verletzlich, haben keinen Bestand, werden durch verletzliche und unbeständige Manifestationen ersetzt, die auch wieder vergehen und umgekehrt.
Die Veden der Hindus berichten uns von Brahma, Vishnu und Shiva. Diese drei Gesellen hat wohl der Tatendrang im langweiligen ereignislosen „Nichts“ des leeren Urzustandes überwältigt. Ihr völlig fiktives Gespräch könnte sich so angehört haben.
SHIVA: Soll’n wir nicht irgendwas machen, Freunde? Ich werd’ schon ganz kribbelig und kann meine Füsse kaum noch ruhig halten.
VISHNU: Gute Idee. Nichts ist langweiliger, als das totale „Nichts“. Ich brauche einfach was Handfestes, mit dem ich was anfangen kann.
BRAHMA: Au ja, aber was können wir schon in dieser absoluten „Leere“ abziehen? Die müssten wir zuerst mal mit etwas füllen.
SHIVA: OK, dann sind wir uns ja einig. Es muss was her. Habt ihr eine Idee, wie wir die Rollen verteilen sollen? Wo seht ihr eure Stärken?
BRAHMA: Ich habe gerade eine kreative Phase. Wir brauchen erst mal Zeit und Raum, Tag und Nacht und standfesten Boden unter den Füssen, auf dem ich dann was entwickeln kann.
VISHNU: Das wäre echt gut, wenn du das übernehmen würdest. Ich würde dann darauf achten, dass alles in Schuss bleibt und meine schützende Hand drüber legen.
SHIVA: Absolut Spitze. Und wenn dann alles abgenutzt und nichts mehr reparierbar ist, tanze ich wie ein Wirbelwind drüber hinweg, bis nur noch „Nichts“ übrig bleibt, damit du wieder was neues erschöpfen kannst, mein lieber Brahma. Meine Füsse sind schon ganz nervös. Gib mir den beat man.
Aber es gab noch ein paar Vorbereitungen zu treffen, der Ordnung halber und für die unschuldigen Seelen der Laien verständlich, damit der Glaube an die Nicht-Existenz des Nichts gut wird…
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Shiva ruft zum Rapport
SHIVA: „Brahma, Vishnu. Es ist an der Zeit, dass wir uns einmal wieder treffen, bevor der Abend einkehrt und ich Party mache.“
VISHNU: „Wo denn? Warum denn? Sag bloss, wegen dieser Kleinigkeit? Da hatte ich aber schon ganz andere Sachen zu flicken. Weißt du noch, wie du damals in einer glitzekleinen Meditationspause die Saurier über die Klinge springen liesst und dich danach in Reue entschlossen hast, die Tiere zu schützen?“
BRAHMA: „Lasst mich in Ruhe. Ich habe meine Schöpferarbeit getan und bin erst wieder morgen früh dran. Es geht alles seinen Weg. Die Entwicklung des gesamten Zeitalters von 4,320,000,000 Erdenjahren hat seinen Ursprung in dem von mir gesäten Samen heute in der Früh. Die von mir erlaubte Vielfalt der Entwicklungsmöglichkeiten und das Quäntchen Freiheit habt ihr selbst gefordert, damit es euch während der ständigen Wiederholung der Zeitalter tagsüber nicht langweilig wird. Ausserdem kann ich meine Holde nicht aus den Augen lassen.“
SHIVA: „Brahma, ich bestehe darauf, dass gerade du dabei bist. Und wenn du die vierköpfige Liebeskasperei nicht endlich aufhörst, wird in kürze eine dreiköpfige daraus. Wir treffen uns in unserem Versteck im Nichts in einer Sekunde.“
Brahma hat auf besonderen Wunsch der beiden anderen eine geheime Parallelwelt erschaffen, die dem Zustand des unvorstellbaren absoluten Nichts ähnlich ist. Es ist das Urmeer mit den Hügeln an beiden Enden. In diesem Urmeer befindet sich nur eine kleine flache Stelle, aus der eine Lotuspflanze herausragt. Deren grosse Blätter bieten einen trockenen Platz für die Drei. Drumherum ist nichts. Absolut nichts. Die Zeit vergeht nicht, denn es gibt sie an diesem Orte nicht. Hier ist auch nichts, was sie belauschen kann. Eigentlich existiert diese Parallelwelt gar nicht. Aber in der Nicht-Existenz kennen sich die Drei gut aus.
Pünktlich, genau nach einer Sekunde, haben Brahma der Schöpfer, Vishnu der Erhalter und Shiva der Zerstörer platzgenommen. Hundert Menschenjahre sind eine tausendstel Sekunde in der Zeitrechnung der Drei. So sind innerhalb dieser einen Sekunden, bevor sie sich trafen, ungeheure 100,000 Menschenjahre vergangen. Menschenjahre? Oder ist es besser, Erdenjahre zu sagen? Gibt es die Menschen überhaupt noch? Was in der Götterwelt fast noch Gegenwart ist, rückt jedes Ereignis in der Menschheitsgeschichte weit in die Vergangenheit! Wer weiss, was da alles in dieser Zeitspanne noch passiert ist! Auf jeden Fall hat Tsunami in der Zwischenzeit ihre Pein viele male wieder erfahren müssen und viele male wieder vergessen.
Zieht man die 100,000 Erdenjahre (eine Brahma Sekunde) und die 5000 Erdenjahre, die die Kali Yuga schon dauert von deren Gesamtlänge von 432,000 Erdenjahren ab, bleiben noch 327,000 Jahre, oder etwas mehr als drei Brahma Sekunden, bevor die goldene Epoche der Harmonie, Satya Yuga, wieder anfängt. Tsunami hat noch genug Zeit zum Zicken in diesem Zeitalter
SHIVA: „Also Jungs. Während meiner Meditation kürzlich schossen mir immer wieder zwei Blitzgedanken ablenkenderweise ins Hirn. Eines hat hauptsächlich mit den Ausgeburten deiner Schöpfung zu tun, mein lieber Brahma und das andere mit der Sprache, die deine Frau dieser Sorte Wesen übergeben hat.
BRAHMA: „Nobody is perfect. Mit meinen 50 Jahren habe ich ja noch ein paar Tage in meinem hundertjährigen Leben vor mir. Da kommen noch unzählige Zeitalter. Irgendwann gelingt mir der grosse Wurf. Und lass meine Frau aus dem Spiel, sonst kriegst du was auf dein drittes Auge! Das geht mir sowieso seit längerem auf den Keks.”
VISHNU: “Kann mir schon denken, welche Geschöpfe du meinst, Shiva. Sind es diejenigen, die gerade mal für ein paar Sekunden auf der Erde herumwandeln?“
SHIVA: „Ja, genau. Ich spreche von denen, die sich selber Menschen nennen.“
BRAHMA: „Oh Mann, was ziehst du dich bloss an denen so hoch? In weniger als einer halben Minute gibt es die nicht mehr. Also beeile dich, sonst erledigt sich das Thema sowieso von selbst. Ich will Heim zu meiner Sarasvati!“
Und Brahma lässt seine Blicke in alle vier Himmelsrichtungen schweifen, aber er sieht Sarasvati nicht. Oben auf seinen vier Köpfen bildet sich schon langsam wieder ein kleiner Knubbel mit Verdacht auf einen fünften Kopf. Ein leichtes Zwinkern von Shivas drittem Auge verhindert Schlimmeres.
VISHNU: „Keine Ursache zum Streit, ihr beiden. Morgen früh sieht die Welt wieder anders aus. Aber eines kann ich dir sagen, Shiva. Für eine vorzeitige Empfehlung zum Tanz reichen deine Andeutungen an diesem Nachmittag noch nicht aus. Erzähl erst mal, was dich so ungehalten macht. Vielleicht kann Brahma für morgen früh etwas lernen und seine neue Schöpfung entsprechend darauf einstellen. Ich selber wünschte mir auch ein bisschen weniger Herausforderungen beim Hüten und Bewahren der Welt mit all ihren Wesen. Habe heute schon 100 Garudas verschliessen.“
SHIVA: „Du solltest liebevoller mit deinem Leittier umgehen. Meine weissen Bullen leben genauso lange wie ich und ich erlaube niemanden, ihnen etwas anzutun.
VISHNU: „Du hast gut reden. Sitzt den ganzen Tag lang rum, kiffst dich mit deinem „ganja“ zu und spielst den heiligen Yoga. Ich bin ein Arbeiter und brauche mein Transportmittel um überall dort zu sein, wo Brahmas Schöpfung versagt.
BRAHMA: „Versagt, versagt! Was meinst du damit? Redest du jetzt auch schon wie die Menschen, die alles nur durch ihre eigene Brille sehen? Die reden von Natur-Katastrophe und meinen nur sich selber. Es gibt keine Natur-Katastrophen. Es gibt nur meine Schöpfung, die lebendig ist, sich bewegt, sich ständig verändert. Ich möchte euch einmal hören, wenn ich morgen früh eine starre, unveränderliche Welt schaffen würde. Da würde Shiva schon im Morgengrauen drüber hinwegtanzen, weil ihm langweilig würde. Und dir Vishnu sowieso. Du brauchst das ja, das ständige Instandhalten und rumbasteln.
SHIVA: „Halt! Diese Diskussion hatten wir schon hundert mal. Hört auf damit. Ich möchte noch einmal auf die Sprache zurückkommen. Das Gerede der Menschen über sogenannte Naturkatastrophen, die nur in ihren Augen Katastrophen sind, und das Wort „Betroffenheit“, welches die Unbetroffenen gerne benutzen, sind eine Sache.
Aber, wie kann es sein, dass ein Geschöpf, wie der Schreiberling dieses Machwerkes, der noch nicht einmal die Sanskrit- oder Pali-Sprache beherrscht, solch hirnverbrannte Geschichten über uns verbreiten darf? Da zuckt mir doch gleich der Zeh...
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